Dr. habil. Hansjörg Hemminger. Foto: privat
Im folgenden Beitrag aus dem Jahr 2014 hat Dr. Hemminger die Kernthesen seines Vortrags zusammengestellt. Die vollständige Fassung des Vortrags ist am Schluss des Artikels zum Abruf bereit gestellt.
Die Evolution umfasst eine Milliarden Jahre umgreifende "große" Erzählung:
Die Evolution umfasst eine Milliarden Jahre umgreifende „große“ Erzählung:
Kosmologie, Geologie, Biologie, Menschheitsgeschichte. Die Geschichte des
Kosmos und die Erdgeschichte, die beiden ersten Akte, haben eine ergreifende
Größe und monumentale Einfachheit. Als Widerspruch zum biblischen
Schöpfungsglauben erlebt man sie kaum, trotz der riesenhaften Zahl der Sonnen
und Galaxien, der ungeheuerlichen Räume und Zeiten.
Die Stammesgeschichte setzt Konkurrenz und Tod voraus -
verbirgt sich Gott hinter der Maske des Sterbens?
Das gilt nicht für den
dritten Akt, für die Geschichte des Lebens. Denn die Stammesgeschichte setzt
Konkurrenz und Tod voraus. Das einzelne Leben, auch das Leben von Populationen
und Arten, muss kurz sein gegenüber der Gesamtgeschichte, damit für die
Anpassung an sich wandelnde Umweltbedingungen genetische Varianten zur
Verfügung stehen. Es muss einen Überschuss von Lebewesen geben, von denen sich
nur ein Teil fortpflanzen kann (Prinzip der Variation, Prinzip der Redundanz,
Prinzip der Selektion).
Wenn – wie Juden, Christen und Muslime glauben – die Evolution aus dem Willen Gottes hervorgeht, so verbirgt sich Gott hinter der Maske des Leidens und Sterbens. „Ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden.“ sagt der Arzt Bernard Rieux in dem Roman „Die Pest“ von Albert Camus (1946).
Charles Darwin brach mit dem teleogischen Denken der früheren Naturwissenschaft
Charles Darwin
schrieb in einem Brief an Asa Gray: „Ich hatte nicht die Absicht, atheistisch
zu schreiben. Aber ich gebe zu, dass ich nicht so deutlich, wie es andere
sehen und wie ich es selbst gerne sehen würde, rings um uns her Beweise für
Zweckbestimmung und Güte zu erkennen vermag. Es scheint mir zu viel Elend in
der Welt zu geben. Ich kann mich nicht dazu überreden, dass ein gütiger und
allmächtiger Gott mit Absicht die Schlupfwespen erschaffen haben würde mit
dem ausdrücklichen Auftrag, sich im Körper lebender Raupen zu ernähren, oder
dass eine Katze mit Mäusen spielen soll."
Damit brach Darwin mit dem teleologischen Denken der früheren Naturwissenschaft und mit der Physikotheologie der Aufklärungszeit. Deren Argumente werden heute zwar von der Bewegung für ein „intelligentes Design“ wieder aufgelegt. Aber was vor 200 Jahren fruchtbares Denken war, ist heute Obskurantismus.
Die Fragen nach dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren in der Evolution
bezieht sich auf die naturphilosophische und die theologische Ebenene
Eine ernsthafte Frage
nach dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren in der Evolution kann sich auf zwei
Ebenen beziehen. Naturphilosophisch kann gefragt werden, ob ein Telos in der
Evolution erkennbar ist, eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung, die eine
Sinnzuschreibung zulässt.
Theologisch stellt sich die Theodizee-Frage, nämlich ob und wie die Evolution aus dem Willen des Gottes hervorgegangen sein kann, der nach biblischen Zeugnis „barmherzig, gnädig und von großer Güte“ ist. Dass der Tod eine inhärente Eigenschaft der der Evolution ist, könnte man noch hinnehmen. Aber wie steht es mit ihrer Grausamkeit, wie steht es mit den Raubtieren, den Schlupfwespen und Parasiten? Warum hat Gott ein solches System des gnadenlosen Konkurrenzkampfes zugelassen?
Denn es gibt in der Natur auch kooperative Systeme: Symbiosen, altruistisches Sozialverhalten in Gruppen, Brutpflege, die sozialen Kollektive von Insekten usw. Wären weniger grausame Ökologien nach solchen Mustern biologisch denkbar?
Wir kennen die Dynamik der Evolution nicht
Wir wissen es nicht, denn wir kennen
die Dynamik der Evolution nicht, wenn wir sie auf einer sehr großen Zeit- und
Raumskala betrachten. Daher ist auch nicht möglich anzugeben, ob es in dieser
oder in einer anderen Welt Ökologien geben könnte, die ohne Fressen und
Gefressen werden, ohne Parasiten, ohne schreckliche Krankheitserreger und
Gewalt stabil sind.
Das biologische Wissen kann deshalb nicht von sich aus zu einer philosophischen Sinnzuweisung, zu einem Telos der Evolution, führen. Ohne metaphysische Prinzipien bleibt es ontologisch unterbestimmt. Und die Theodizee? Eine Welt der Evolution ist – so sieht es für uns aus – nicht die beste aller Welten. Wir könnten uns Besseres vorstellen: Kooperation anstatt Konkurrenz, Friede statt Kampf.
Der Glaube sagt: Gott verbirgt sich im Unfassbaren, vielleicht auch im unfassbaren Lauf der Stammesgeschichte
Gott hat eine solche Welt nicht geschaffen,
aber er schenkt uns nach biblischem Zeugnis Hoffnung über Leid und Tod hinaus.
Versöhnt uns diese zaghafte - oder auch tollkühne - , Hoffnung mit einer Evolution,
die gleichermaßen ein Strom von Schönheit und Kraft, und ein Katarakt des
Elends ist?
Schauen wir zurück auf den Anfang des großen Dramas: Auch der Kosmos ist zu gewaltig für unser Gemüt, zu ungeheuerlich sind die Zahlen, zu riesenhaft die Räume, zu endlos die Zeiten. Dennoch, so sagt der Glaube, ist dieser Kosmos Gottes Werk. Er verbirgt sich im Unfassbaren, vielleicht auch im unfassbaren Lauf der Stammesgeschichte.
Zur Person
Dr. rer. nat. habil. Hansjörg Hemminger, geboren 1948 in Rottweil, ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er studierte Biologie im Hauptfach und Psychologie im Nebenfach an den Universitäten Tübingen und Freiburg. In den Jahren 1984 bis 1996 war er wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Stuttgart, einem Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland. Seit März 1997 ist er Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem war Hansjörg Hemminger Mitglied der Enquète-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des 13. Deutschen Bundestags. Er publizierte zahlreiche Artikel und Bücher, in letzter Zeit erschienen zum Beispiel das Lehrbuch „Grundwissen Religionspsychologie“, sowie der EZW-Text 195 zum Thema „Kreationismus und intelligentes Design“; zum Darwin-Jahr das Buch „Und Gott schuf Darwins Welt“.
Dr. habil. Hansjörg Hemminger, Stuttgart / 10.05.2014