Prof. Dr. Gerhard Roth: Was ist wirklich – aus neurowissenschaftlicher Sicht?

Wirklichkeitsdeutung aus der Perspektive der Neurowissenschaften

Wenn wir heute uns darüber verständigen wollen, wie die Wirklichkeit zu beschreiben ist, in der wir leben, müssen wir auch auf die Erkenntnisse der Neurowissenschaften Bezug nehmen. Der Neurobiologe und Philosoph Prof. Dr. Roth, einer der führenden Hirnforscher, hat seine Sicht der Wirklichkeit im Gespräch mit Dr. Frank Vogelsang erläutert

Es gibt sie nicht – die eine Wirklichkeit. Wenn wir über unser Verständnis von Wirklichkeit reden, dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass wir nicht aus einer allwissenden, quasi objektiven Sicht schauen. Denn wir sind endliche leibliche Wesen mit bestimmten Voraussetzungen des Erkennens. Etwas zugespitzt formuliert: Wir erkennen nur die Wirklichkeit, die uns unser Gehirn erkennen lässt. Alle Auffassungen von Wirklichkeit sind durch das Gehirn, seine Strukturen, seine Eigenschaften beeinflusst, Felder, die durch die Neurowissenschaften immer differenzierter erforscht werden.

Was folgt daraus für unser Selbstverständnis? Mit ihren Methoden und Erkenntnissen werfen die Neurowissenschaften Fragen auf, die mitten hinein führen in die Jahrtausende alten Fragen der Philosophie, denn die Wirklichkeitswahrnehmung gehört zu den klassischen philosophischen Erkenntnisgegenständen. Heute ist es für Philosoph:innen unumgänglich, dabei die Erkenntnisse der Neurowissenschaften zu berücksichtigen.

Professor Dr. Gerhard Roth, einer der führenden Hirnforscher, aber auch promovierter Philosoph, erforscht seit langem die Bedingungen, unter denen unser Gehirn die Wirklichkeit erkennt, und hat wegweisende Publikationen zu dem Thema vorgelegt. In dem Gespräch mit Dr. Frank Vogelsang erläutert er seine Sicht auf die Wirklichkeitsdeutung. Das Gespräch folgt den Schwerpunktfragen: Was ist Wahrnehmung? Was ist Bewusstsein? Was ist der menschliche Geist?

Prof. Dr. Gerhard Roth. Foto: Roth Institut

Zur Person:
Professor Dr. Gerhard Roth ist promovierter Philosoph und Biologe. 1976 erhielt er einen Ruf an die Universität Bremen und lehrte dort bis 2008 als Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie. Seit 1989 hatte er die Funktion des Direktors des dortigen Instituts für Hirnforschung inne, dem heutigen Zentrum für Kognitionswissenschaften. Von 1997 bis 2008 war Roth Gründungsrektor des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst bei Bremen. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und war von 2003 bis 2011 Päsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. Seit 2008 ist er Geschäftsführer der Roth GmbH – Applied Neuroscience mit Sitz in Bremen. Professor Roth ist einer der bekanntesten europäischen Hirnforscher und Bestsellerautor. Er hat rund 200 Bücher und Aufsätze auf den Gebieten Kognitive Neurowissenschaften, Persönlichkeitsforschung und Neurophilosophie veröffentlicht. 2009 wurde er von der Zeitschrift Cicero als wichtigster lebender deutschsprachiger Wissenschaftler ausgewählt.