Prof. Christian Elger: Das Hirn als Schlüssel zum Verständnis des Menschen?

Akademiegespräch mit dem Neurowissenschaftler Professor Christian E. Elger

Inwieweit bestimmen neuronale Prozesse unser Handeln? Sind wir gar nicht so frei, wie wir im Alltag glauben? Werden archaische Muster wie die Gier heute durch kulturelle Faktoren gefördert, z.B. im Investmentbanking? Sind die neuen Medien eine Gefahr für unser Gehirn oder eine weitere Herausforderung?

Akademiegespräche: Prof. Dr. Christian E. Elger und Dr. Frank Vogelsang über das Menschenbild

Die neurowissenschaftliche Forschung sucht Antworten auf diese Fragen, denn sie will die Bedingungen des menschlichen Verhaltes besser verstehen. Um den aktuellen Forschungsstand und neue Perspektiven der Hirnforschung geht es im Akademiegespräch, das Akademiedirektor Dr. Frank Vogelsang mit Professor Dr. Christian  E. Elger geführt hat. Der Neurologe und Epileptologe ist Direktor der Klinik für Epileptologie am Universitätsklinikum Bonn und einer der führenden Wissenschaftler im Bereich der Neurowissenschaften. Das Video mit dem Akademiegespräch kann hier abgerufen werden.

Verbrecher aus Veranlagung?

Elger rät zur Nüchternheit. Unser Verhalten ist nicht einfach determiniert, aber: „Das Gehirn kann die Freiheitsgrade des menschlichen Handelns stark einschränken.“ Seine Forschungen haben gezeigt, dass manche Epilepsiepatienten, die sich über die direkten Krankheitserscheinungen hinaus auch sozial auffällig verhielten, ihr Verhalten nachhaltig verändern, wenn der Epilepsieherd im Gehirn entfernt wurde.

Der kulturelle Umgang mit den im Gehirn angelegten Verhaltensmustern

Die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung sind nicht nur medizinisch von Bedeutung, sie bieten auch  wichtige Informationen im Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen: „Wenn man etwa das Problem der Neurodegeneration besser verstanden hat, hat das gravierende soziale Folgen in einer alternden Gesellschaft“, meint der Neurowissenschaftler.

Aber Elger plädiert nicht dafür, aus den Aktivitäten des menschlichen Gehirns alle Verhaltensformen direkt abzuleiten. Die neuronale Basis darf nicht unterschätzt werden, aber das kulturelle Umfeld spielt nach wie vor eine große Rolle. Dieses Zusammenspiel wird  z.B. deutlich sichtbar bei bestimmten archaischen Verhaltensmustern. Gier, so Elger ist ein solches Verhalten, das z.B.i n der frühen Menschheitsgeschichte eine positive Bedeutung hatte, weil es das Überleben sichert. Doch wenn man diese Anlage in einem kulturellen Umfeld besonders fördert, können nachteilige Entwicklungen entstehen. Nicht von ungefähr weist Elger hier auf Formen des kurzzeitigen Investmentbankings, das mit einem System hoher Belohnungen für riskantes Verhalten verbunden ist.

Die Bedeutung sozialer Anreizsysteme

Jenseits ideologischer Fragen – ist der Mensch frei oder ist er nicht vielmehr durch seine Hirnphysiologie unfrei? – tut sich so ein spannendes Forschungsfeld auf, das Einblicke in soziale Kontexte und Gestaltungsmöglichkeiten gibt: Wenn ein direkter kleiner Gewinn von den meisten Versuchspersonen einem größeren Gewinn nach einiger Zeit des Wartens vorgezogen wird, dann muss man neu über die Gestaltung von Anreizsystemen nachdenken. Gesellschaftliche Anreizsysteme können soziale erwünschte Resultate haben, aber auch das Gegenteil verursachen. Die Hirnforschung zeigt: Es kommt dabei sehr auf die Art der kulturellen Anreize und Symbole an: Wenn physiologische Anlagen entsprechend berücksichtigt werden, können konstruktive Perspektiven des Verhaltens gefördert werden.

Die Digitalisierung als Herausforderung und Chance

„Trotz unserer vorgegebenen  physiologischen Anlagen ist das menschliche Gehirn hoch dynamisch und plastisch“, unterstreicht der Neurologe. Neuere Messungen zeigen, dass die Intelligenz der Menschen in den letzten 100 Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Deshalb sieht Christian Elger die digitalen Medien nicht als Gefahr per se, sondern als eine Herausforderung. Der Neurowissenschaftler  fordert neue Anstrengungen in der kulturellen Adaption der Technologien, etwa durch Erziehungssysteme, die die Vorteile der Digitalisierung nutzen, aber auch auf die Gefahren aufmerksam machen.

Diskutieren Sie mit!

Professor Elger plädiert für eine nüchterne Einschätzung der Möglichkeiten der Neurowissenschaften. Wie schätzen sie die Neurowissenschaften ein?
Einen Diskussionsbeitrag zu der Gefahr der ideologischen Überhöhung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse finden Sie hier: www.frank-vogelsang.de